Studie zu Antisemitismus in Baden-Württemberg vorgestellt

Antisemitismus begegnet Jüdinnen_Juden in Baden-Württemberg potentiell in allen Lebensbereichen und nimmt Formen bis hin zu tödlicher Gewalt an. Dies geht aus der „Problembeschreibung: Antisemitismus in Baden-Württemberg“ hervor, die der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS), der Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, die „Meldestelle #Antisemitismus“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg und die Israelitischen Religionsgemeinschaften Baden und Württemberg am heutigen Dienstag vorstellten.

Die vom Bundesverband RIAS erstellte Studie umfasst die Auswertung der Befragung jüdischer Communities vor Ort sowie Analysen polizeilicher und zivilgesellschaftlichen Daten zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten im Bundesland. Sie kann unter https://report-antisemitism.de/findings eingesehen werden.

Der Bundesverband RIAS führte im Sommer und Herbst 2019 insgesamt 20 Interviews mit Vertreter_innen jüdischer Gemeinden beider Landesverbände und mit zivilgesellschaftlichen Akteur_innen im Bundesland durch. Die meisten Befragten berichteten von einer Vielzahl antisemitischer Vorfälle in sämtlichen Bereichen ihres Alltags und aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen. Die Interview-Partner_innen sahen Antisemitismus als großes Problem und äußerten sehr deutlich Befürchtungen vor einer weiteren Zunahme der Zahl antisemitischer Vorfälle in Baden-Württemberg.

Der Bundesverband RIAS wertete zudem 671 antisemitische Straftaten aus, die zwischen 2014 und 2018 in Baden-Württemberg begangen wurden. Insbesondere 2014 wurden im Zusammenhang mit der Eskalation im Konflikt zwischen Israel und Hamas zahlreiche Straftaten verzeichnet – nicht allein in großstädtischen Räumen, sondern in der Fläche des Bundeslandes. Insgesamt fanden zwei Drittel der in der Statistik zu politisch motivierter Kriminalität erfassten Straftaten in Mittel- wie Kleinstädten oder im ländlichen Raum statt, was Baden-Württemberg von anderen vom Bundesverband RIAS untersuchten Bundesländern unterscheidet.

Im gleichen Zeitraum wurden dem Bundesverband RIAS und seinem Vorgängerprojekt zudem 65 antisemitische Vorfälle über direkte Meldungen sowie durch Online- und Presse-Monitoring bekannt. Von verletzendem Verhalten wie „Drecksjudenverein“-Rufen bei einer Fußballspielübertragung in einer Bar bis hin zu extremer Gewalt wie dem antisemitisch begründeten Raubmord in Horb am Neckar 2018 nahmen diese Vorfälle sämtliche Formen an. In etwa ein Drittel der Vorfälle wurden durch zivilgesellschaftliche Dokumentation in der Region Südlicher Oberrhein bekannt, wo zahlreiche Vorfälle rund um den Konflikt um die Einrichtung des Erinnerungsortes für die Alte Synagoge in Freiburg gemeldet wurden.

Die „Problembeschreibung“ ist Begründung und zugleich wichtige Ergänzung für die in Baden-Württemberg unternommenen Anstrengungen, communitynahe Melde- und Unterstützungsangebote bei antisemitischen Vorfällen zu etablieren.

Auch die seit Ende 2019 aktive Meldestelle „#Antisemitismus“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg berichtete am Dienstag über eine hohe Anzahl antisemitischer Vorfälle: So wurden bereits über 500 Vorfälle gemeldet.

 

Stimmen zur Veröffentlichung der „Problembeschreibung: Antisemitismus in Baden-Württemberg“:

Dr. Annette Seidel-Arpacı,
Vorstandsmitglied, Bundesverband RIAS:

„Auch in Baden-Württemberg zeigt sich deutlich, dass die Bedrohung durch Antisemitismus von allen erdenklichen Seiten kommt, sei es durch Verschwörungsdenken in der ‚Coronaleugner‘-Szene, durch israelfeindliche Demonstrationen, aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft oder einem Konglomerat aus vermeintlich nicht verwandten ideologischen Versatzstücken. Solch vielfältige antisemitische Handlungen und Äußerungen, eben auch jenseits von Straftaten, müssen konkret benannt und dokumentiert werden. Hierzu braucht es Bereitschaft, jede Erscheinungsform von Antisemitismus wahrzunehmen, und ein fundiertes Verständnis der individuellen und gesellschaftlichen Funktion des Antisemitismus als umfassender Welterklärung.“

Susanne Jakubowski,
Vorstandsmitglied, Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg:

„Judentum ist eine zutiefst fröhliche und lebensbejahende Religion. Doch Antisemitismus ist eine Art Hintergrundrauschen für jedwedes jüdische Leben, das einen immerfort begleitet. Heute hören jedoch nicht mehr nur wir dieses bedrohliche Hintergrundrauschen, sondern auch in der Zivilgesellschaft, in Staat und in den Medien hört man sehr genau hin und agiert entsprechend. Eine Sensibilität, die in dieser Form gänzlich neu ist und die uns unglaublich viel Mut gibt, dass wir nicht nur als ‚Juden‘, sondern als Menschen angenommen sind. Und dazu gehören auch die leider nicht unberechtigten Sorgen.“

Rami Suliman,
Vorstandsvorsitzender, Israelitische Religionsgemeinschaft Baden:

„Antisemitismus ist ein drängendes Problem, auch bei uns in Baden-Württemberg. Aber wir werden im Bestreben, ohne Angst vor Bedrohung leben zu können, von der Zivilgesellschaft und der Politik unterstützt. Das hat sich gerade erst wieder gezeigt, als sich unsere Partner aus Regierung, Landtag, Kommunen, Religionsgemeinschaften und Gesellschaft demonstrativ hinter uns stellten, und Beschädigungen von Synagogen in Mannheim und Ulm sowie gewalttätige Demonstrationen in Folge der Hamas-Angriffe auf Israel zu verurteilen.“

Dr. Michael Blume,
Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus:

„Antisemitismus können wir nur dann zielgenau bekämpfen, wenn wir uns immer wieder und immer genauer anschauen, auf welche unterschiedlichen Weisen Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass antisemitische Straftaten konsequent verfolgt und geahndet werden – egal ob es sich dabei um physische Angriffe oder Hetze und Beleidigungen im Internet handelt.“

Günter Bressau,
Bereichsleiter Demokratie bei der Jugendstiftung Baden-Württemberg:

„Die Zahlen aus der Studie zeigen eine bedrohliche Entwicklung auf, die in der ‚Meldestelle #Antisemitismus‘ der Jugendstiftung Baden-Württemberg ebenso wahrgenommen wird: Im Gegensatz zum Vorjahreszeitraum ist die Zahl der gemeldeten antisemitischen Fälle um über 300 Prozent auf 334 Meldungen – zumeist Online-Hetze – im ersten Halbjahr 2021 gestiegen. Davon wurden 200 Vorfälle durch die Meldestelle bei der Polizei angezeigt sowie Löschanträge gestellt.“

Marina Chernivsky,
Geschäftsführerin, OFEK e.V. Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung:

„Antisemitismus als historisches und soziales Phänomen existiert jenseits der Vorfälle in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Erfassung und Dokumentation konkreter Vorfälle helfen das Ausmaß und die Beständigkeit von Antisemitismus abzubilden. Auch wir als Beratungsstelle OFEK stellen fest, dass die Qualität der antisemitischen Vorfälle sich verändert hat. Es überwiegen Vorfälle mit verletzenden Verhalten und auch tätliche Übergriffe sowie Androhung von Gewalt. Niemand soll es allein durchstehen. Deshalb bietet OFEK Unterstützung und Beratung bei jedem antisemitischen Vorfall an und ist in Baden-Württemberg in Stuttgart und Freiburg mit eigenen Büros vertreten.“

Über den Bundesverband RIAS
Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. wurde im Oktober 2018 gegründet. Er verfolgt das Ziel, bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten und die Interessen von Trägern und Projekten regionaler Meldestellen für antisemitische Vorfälle gegenüber der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung zu vertreten.

Medienkontakt: Daniel Poensgen
E-Mail: presse@report-antisemitism.de
Tel.: 030 – 817 985 818
www.report-antisemitism.de/bundesverband-rias

Über den Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus
Dr. Michael Blume ist Ansprechpartner für die Belange jüdischer Gruppen, aber auch für den Landtag, für Kommunen, Kirchen- und Moscheegemeinden sowie Bildungseinrichtungen. Die Geschäftsstelle des Antisemitismusbeauftragten ist im Staatsministerium angesiedelt. Der Beauftragte gegen Antisemitismus berichtet dem Ministerpräsidenten direkt und hat 2019 den ersten Bericht zum Antisemitismus in Baden-Württemberg vorgestellt.
E-Mail: beauftragter-gegen-antisemitismus@stm.bwl.de
Tel.: 0711 – 21 53 604
https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus/

Meldestelle #Antisemitismus bei der Jugendstiftung Baden-Württemberg
Die Jugendstiftung Baden-Württemberg betreibt die Meldestelle „#Antisemitismus“. Sie dokumentiert antisemitische Vorfälle im Land, stellt präventive Angebote zur Verfügung und vermittelt Beratung. Sind bei der Meldestelle eingereichte Vorfälle strafrechtlich relevant, erstattet die Jugendstiftung Anzeige beim Landeskriminalamt. Die meldende Person bleibt dabei anonym.
Medienkontakt: Stella Loock, Kommunikation und Marketing
E-Mail: loock@jugendagentur.de
Tel.: 015 73 – 83 99 484
https://demokratiezentrum-bw.de/meldestelle-antisemitismus

 

 

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